Digitale Reifegradmessung nach dem Electronic Medical Records Adoption Model – EMRAM
Digital Maturity Measurement According to the Electronic Medical Records Adoption Model – EMRAM
Jörg Schönfelda
aAbteilung Medizintechnik, Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Zusammenfassung
In der modernen Gesundheitsversorgung ist die digitale Transformation unverzichtbar geworden. Ein digitales Reifegradmodell für ein Krankenhaus ist essenziell, um diesen Wandel strukturiert und zielgerichtet zu gestalten. Es dient als Kompass, der den aktuellen Stand der Digitalisierung erfasst, Potenziale für Verbesserungen aufzeigt und einen klaren Weg für die zukünftige Entwicklung ebnet. Ohne ein solches Modell fehlen eine gemeinsame Sprache und ein messbarer Rahmen, um Fortschritte zu verfolgen, von anderen zu lernen und letztendlich eine qualitativ hochwertigere, effizientere und patientenzentrierte Versorgung zu realisieren.
Ein Reifegradmodell ist ein fundamentales Werkzeug, um die Chancen der Digitalisierung im Krankenhaus optimal zu nutzen und den Anschluss an eine zunehmend vernetzte Gesundheitslandschaft nicht zu verlieren. Neben der Möglichkeit für deutsche Krankenhäuser am Projekt „DigitalRadar“ teilzunehmen, hat sich für die digitale Reifegradmessung das EMRAM-Reifegradmodell der Healthcare Information and Management Systems Society (HIMSS) einer internationalen Non-Profit-Organisation, etabliert.
Für die Bundeswehrkrankenhäuser ist die Bestimmung des digitalen Reifegrads insofern wichtig, als sich die aktuelle sicherheitspolitische Lage, die ein Zusammenwirken mit zivilen Gesundheitseinrichtungen, z. B. bei Kampfhandlungen mit einem Massenanfall von Verletzten, notwendig macht, geändert hat. Im Mittelpunkt stehen Steuerung und Überwachung der Patientenströme sowie die digitale Übergabe der Patientendaten bei Verlegungen. Dieser Gesamtprozess steht im medizin-technologischen Zeichen einer Behandlungs-Orchestrierung. Die Bestimmung des digitalen Reifegrads in den Bundeswehrkrankenhäusern dient dazu, fehlende digitale Module für das Zusammenwirken zu ergänzen mit dem Ziel einer papierlosen, einheitlichen Dokumentation, hin zu einem sogenannten smarten Krankenhaus oder einem „Krankenhaus 4.0“ bei der Umsetzung der digitalen Transformation im Sanitätsdienst der Bundeswehr.
Schlagwörter: digitaler Reifegrad, Electronic Medical Records Adoption Model (EMRAM), digitale Transformation
Summary
Digital transformation has become indispensable in modern healthcare. A digital maturity model for a hospital is essential for shaping this change in a structured and targeted manner. It serves as a compass that captures the current state of digitalization, highlights potential for improvement, and paves a clear path for future development. Without such a model, a common language and a measurable framework are lacking for tracking progress, learning from others, and ultimately implementing higher-quality, more efficient, and patient-centered care.
A maturity model is a fundamental tool for leveraging the opportunities of digitalization in hospitals and maintaining a connection to an increasingly networked healthcare landscape. In addition to the opportunity for German hospitals to participate in the “DigitalRadar” project, the EMRAM maturity model of the Healthcare Information and Management Systems Society (HIMSS), an international non-profit-organization, has been established for measuring digital maturity.
Determining the digital maturity level is important for Bundeswehr hospitals because the current security situation has changed, necessitating collaboration with civilian healthcare facilities, for example, during combat operations involving a mass casualty incident. The focus here is on regulating and monitoring patient flows and digitally transferring patient data with the patient during mutual transfers. This overall process is part of the medical-technological concept of treatment orchestration. Determining the digital maturity level in Bundeswehr hospitals serves to supplement missing digital modules for collaboration with the goal of paperless, uniform documentation, leading to a so-called smart hospital or a “Hospital 4.0” in the implementation of digital transformation in the Bundeswehr Medical Service.
Keywords: digital maturity; electronic medical records adoption model (EMRAM); digital transformation
Konzept eines Reifegradmodells
Das Konzept eines Reifegradmodells wurde in den 1980er Jahren von dem Software Engineering Institute (SEI) der Carnegie Mellon University auf Initiative des US-Verteidigungsministeriums entwickelt [3][4]. Es wurde ursprünglich als Instrument im Sinne der Methoden- und Werkzeugsammlung zur Bewertung der Softwareentwicklung mit dem Ziel eingeführt, die Effizienz von Entwicklungsprozessen im Softwarebereich zu bewerten und zu verbessern. Aus diesem Konzept wurde das CMM, das Capability Maturity Model, entwickelt. Seit der Einführung des CMM im Jahr 1991 haben sich in vielen Bereichen spezialisierte Reifegradmodelle etabliert. Sie dienen dazu, Unternehmen sowie Gesundheitseinrichtungen auf Grundlage des aktuellen Zustands zu analysieren und mögliche Entwicklungsperspektiven für die Zukunft zu identifizieren. CMMs verbessern die Arbeitsabläufe in einer Organisation, indem sie den Wandel von spontanen Abläufen zu strukturierten und wirksamen Prozessen fördern. Die Übertragung des IT Architecture Capability Maturity Model (ACMM) auf das IT-Architekturmanagement eines Krankenhauses oder einer Klinik soll den Wertbeitrag, die Weiterentwicklung und die Steuerbarkeit der IT gezielt messbar machen [9].
Das IT Architecture Capability Maturity Model (ACMM) dient im Krankenhaus- oder Klinikbereich dazu, den Wertbeitrag, die Weiterentwicklung und die Steuerbarkeit der IT in der Wertschöpfungskette zu verbessern. Reifegradmodelle bestehen unabhängig von ihrer Ausprägung immer aus den folgenden klaren Bestandteilen:
- Stufen mit Bezeichnungen,
- Dimensionen mit definierten Inhalten,
- erforderlichen Elementen oder Aktivitäten zur Beschreibung dieser Inhalte und
- einer Zusammenfassung der jeweiligen Reifegradeigenschaften.
Neben der Erhebung des Entwicklungsstandes und der Identifikation von Verbesserungspotenzial versuchen Reifegradmodelle, einen Beitrag zur Bestimmung der Richtung bzw. des Ausmaßes von Entwicklungspotenzialen in bestimmten zu betrachtenden Bereichen zu leisten. Diese Erkenntnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass auch Gesundheitseinrichtungen, die Veränderungen effektiv bewältigen wollen, in der Regel erfolgreicher sein werden als solche, die dies nicht können.
Viele Krankenhäuser und Kliniken wissen, dass sie ihre Prozesse im Allgemeinen und ihre IT-Prozesse im Besonderen verbessern müssen, um die dynamischen Veränderungen im Gesundheitswesen erfolgreich zu bewältigen. Sie wissen aber oft nicht, wie sie das dazu erforderliche Prozedere Schritt für Schritt erfolgreich angehen sollen. Organisationen wie DigitalRadar [5] und HIMSS [7] unterstützen deutsche Krankenhäuser dabei, den digitalen Reifegrad systematisch zu ermitteln. Möglich ist auch die methodische Herangehensweise durch dafür ausgebildete Stabselemente innerhalb einer digitalen Stabsorganisation (z. B. verortet im Kommando Gesundheitsversorgung der Bundeswehr).
Das EMRAM Reifegradmodell
Die Übertragung der Herangehensweise zur Anwendung eines Reifegradmodells im Gesundheitswesen ist ein neues Konzept, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat [1]. Ein Beispiel dafür ist das Electronic Medical Record Adoption Model (EMRAM), das 2005 von der HealthCare Information and Management Systems Society (HIMSS) eingeführt wurde [10]. Das Modell misst und bewertet, wie Krankenhäuser die elektronische Patientenakte (ePA) einführen. Es basiert auf der Annahme, dass eine schrittweise Anpassung der IT-Prozesse nötig ist, um von analogen zu digitalen Akten zu wechseln. Seitdem haben viele Länder ähnliche Modelle eingeführt, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu fördern und zu bewerten [6]. Das EMRAM-Stufen-Modell bewertet mit einer Methodik den Reifegrad eines Krankenhauses. Die EMRAM-Stufen reichen von 0 bis 7, wobei 0 die niedrigste und 7 die höchste Stufe darstellen. Die EMRAM-Stufen berücksichtigen verschiedene Aspekte der elektronischen Patientenakte-ePA, wie z. B. die Erfassung, Speicherung, Vernetzung und Nutzung von klinischen Daten. Ziel der Umsetzung der einzelnen EMRAM-Stufen im Krankenhaus ist es, die Qualität, Sicherheit und Effizienz der Patientenversorgung zu verbessern, die digitale Transformation im Gesundheitswesen zu fördern und zu einer ganzheitlichen, papierlosen Dokumentation zu kommen.
Ziele des EMRAM-Stufenmodells
Folgende Ziele können mit der Anwendung des EMRAM-Stufenmodells verfolgt werden:
1. Inanspruchnahme von Förderung und Finanzierung
Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) hat die Bundesregierung im Jahr 2020 ein milliardenschweres Förderprogramm eingeführt, um die deutschen Krankenhäuser beim Ausbau ihrer digitalen Strukturen zu unterstützen. Das Förderprogramm wurde aktuell bis zum Jahr 2030 verlängert, weil man festgestellt hat, dass Krankenhäuser bei der konformen Umsetzung der Förderkriterien Schwierigkeiten haben. Eine Förderung und nachfolgende Weiterförderungen sind jedoch nur möglich, wenn die Krankenhäuser ihren digitalen Reifegrad in einer Selbsteinschätzung darstellen, die auch auf Grundlagen des EMRAM-Modells fußt.
Die Anwendung des EMRAM-Modells hilft dabei, Förderbereiche zu identifizieren und mögliche Förder-Finanzierungen gezielt einzusetzen. Die Bundeswehrkrankenhäuser können am KHZG nicht teilnehmen, weil die Fördermittel auf Länderebene ausgereicht werden. Im Kontext des KHZG stellt das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) eigene Sondermittel für projektbezogene Digitalisierungsvorhaben zur Verfügung.
2. Identifikation von Defiziten
Die Anwendung des EMRAM-Reifegradmodells ermöglicht es Krankenhäusern und Kliniken, ihre Digitalisierungsdefizite im Vergleich zu anderen Einrichtungen zu erkennen. Dadurch können sie gezielt Maßnahmen ergreifen, um ihre digitale Infrastruktur zu verbessern, eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung zu gewährleisten und ihre digitalen Schwerpunkte zu bestimmen.
3. Handlungsfelder und Schwachstellen
Eine gute digitale Reifegradmessung geht über eine einfache Stufenzahl hinaus. Sie leitet aus den Ergebnissen konkrete Handlungsfelder und Schwachstellen ab. Diese Informationen sind entscheidend, um digitale Entwicklungsprojekte in den Krankenhäusern und Kliniken effektiv zu planen und nachhaltig umzusetzen. Jedes Förderprojekt muss auch nachweisen, dass bei der Umsetzung die Cybersecurity-Vorgaben verbessert werden.
4. Vergleich mit anderen Ländern
Erhobene Daten aus Deutschland können mit dem international gebräuchlichen Score des EMRAM-Modells verglichen werden. Dieser Score kann aufzeigen, ob und wie deutsche Krankenhäuser im Vergleich zu anderen Ländern wesentliche Fortschritte in wichtigen Bereichen wie der Einführung von Interoperabilität und Patientenpartizipation im Krankenhaus gemacht haben.
Verbesserungspotenzial in vielen Bereichen
Das EMRAM-Modell zur Einführung der ePA misst die klinischen Ergebnisse, um die Prozessabläufe der Patientenbehandlung zu verbessern. Das Modell umfasst Methoden und Algorithmen, um ein gesamtes Krankenhaus in seiner Entwicklung zu bewerten, einschließlich der Erbringung stationärer und ambulanter Dienstleistungen. EMRAM bietet einen detaillierten Fahrplan (Schritt für Schritt – Methode), um die Einführung der ePA und der gesamten papierlosen Patientendokumentation zu erleichtern. Durch die Messung evidenzbasierter Daten im Kontext der Anwendung der einzelnen EMRAM-Stufenvorgaben gelingt es, die einzelnen digitalen medizinischen Arbeitsumgebungen zu optimieren.
Eine Folge dieser Optimierung ist die Verbesserung der abrechenbaren Leistungen (z. B. interne Abrechnungsprozesse) und die finanzielle Nachhaltigkeit der einzelnen Klinikbereiche im Krankenhaus. Ziel ist es, das Klinikpersonal langfristig am Digitalisierungsprozess zu beteiligen und die Patientenbehandlung weiter für jeden Patienten zu individualisieren. Die digitale Nutzung aller erhobenen Daten während der Patientenbehandlung verbessert die Patientensicherheit und kann dazu beitragen, die Zufriedenheit des Klinikpersonals dauerhaft sicherzustellen, indem Fehler in der Versorgung, die Verweildauer von Patienten und doppelte Behandlungsaufträge reduziert und der Zugriff und die Nutzung medizinischer Daten optimiert werden [8]. Inhaltlich stehen folgende Ziele im Mittelpunkt der Anwendung der EMRAM-Methodik:
- Verbesserung der Patientensicherheit,
- Steigerung der Patientenzufriedenheit,
- Unterstützung des klinischen Personals und
- Erhöhung der Sicherheit der medizinischen Daten.
Unsicherheit bei der praktischen Umsetzung
Trotz einer mittlerweile im europäischen und deutschsprachigen Gesundheitsraum zunehmenden Verbreitung und Anwendung von funktionierenden Kompetenz- und Reifegradmodellen mangelt es bisher an einer ganzheitlichen theoretischen Durchdringung für das Verständnis zur Anwendung eines Reifegradmodells bis zur höchsten Stufe. Besonders Krankenhäuser und Kliniken, die über keine Stabsabteilungen mit Fachleuten (digitale Strategen) verfügen, welche in der Lage sind, eine Entwicklungsstrategie zu erarbeiten und darauf abgestimmt mögliche Förderungen und Finanzierungen zu modellieren und zu nutzen, sind benachteiligt. Hier herrscht in der Praxis eine große Unsicherheit hinsichtlich der Auswahl und Anwendung von verfügbaren Reifegradmodellen (z. B. DigitalRadar oder EMRAM). Diese Unsicherheit resultiert nicht zuletzt aus der kaum mehr zu überblickenden Vielzahl alternativer, oft sehr ähnlicher Modelle, die von Projektmanagement-Organisationen oder Unternehmensberatungen entwickelt und angeboten werden, die sich letztlich aber nicht zu 100 % mit dem Krankenhaus oder der Klinik identifizieren. Ein weiteres Manko ist die gesamtheitliche Betrachtung bei der Anwendung digitaler Reifegradmodelle im Gesundheitswesen im Kontext des Zusammenwirkens digital notwendiger IT-Plattformen und des Anschlusses digitaler Medizingeräte an diese Plattformen. Hinzu kommt der Wunsch vieler Kliniken, eine Fülle an medizinischen Anforderungen an die Digitalisierung gleichzeitig erfüllen zu wollen (z. B. Einführung von klinischer Entscheidungsunterstützung oder Einführung von KI usw.). Folgt man an dieser Stelle keiner Strategie mit der Grundlage einer Methodik, kann man sich schnell verzetteln.
Die sich ständig ändernde politische Lage (z. B. Gesetze, Verordnungen und Normen) ist ebenfalls nicht förderlich für die Umsetzung einer Reifegradstrategie im Krankenhaus. Für die Bundeswehrkrankenhäuser kann die BWI mit ihren Digital-Beratern und Digital-Strategen den Sanitätsdienst in der Umsetzung einer Reifegradstrategie unterstützen. Erste Projekte wie zum Beispiel die Unterstützung bei der Integration von Medizinprodukten (BWI-Projekt: LE2 Arbeitspaket 2, der Start erfolgte 2025 im BwKrhs Ulm) fußen auf der Erstellung konkreter Handbücher, mit denen digitale Dienste der BWI generiert werden, die bei der Umsetzung strategischer Reifegradziele unterstützen können. Im Schwerpunkt muss im Kontext der Medizingeräteintegration auch eine Betrachtung der angeschlossenen IT-Informationssysteme erfolgen, damit die Informationssysteme bedarfsgerecht mitwachsen können (z. B. bei der Einführung von auf KI basierten medizinischen Behandlungs- und Pflegeprozessen).
EMRAM Stufenbeschreibung
Das EMRAM-Modell umfasst nach Vorgaben der HIMMS insgesamt 8 Stufen. Jede Stufe für sich beinhaltet einen nächsten Schritt mit dem Ziel der Prozessoptimierung bei der Anwendung digitaler klinischer Applikationen.
Ziel in Stufe 7 des EMRAM-Modells ist die Implementierung einer elektronischen Patientenakte (im Krankenhaus entspricht das der Electronic Medical Record – EMR), die als Schlüsselkomponente der digitalen Transformation im Krankenhaus und darüber hinaus des Gesundheitswesens gilt. Die Implementierung einer EMR verspricht verschiedene Verbesserungen, z. B. bei der Verfügbarkeit von Informationen, der Koordination der Versorgung oder der Patientensicherheit, und ist für Big-Data-Analysen erforderlich [11]. Inhaltlich umfassen die einzelnen Stufen des EMRAM Modells:
Stufe 0
Das Krankenhaus beginnt wichtige digitale Leistungsabteilungen einzeln in Betrieb zu nehmen und zu implementieren (z. B.: Apotheke, Digitale Fallakte – Krankenhausinformationssystem – KIS, Labor – Laborinformationssystem – LIS, Radiologie – Radiologieinformationssystem – RIS, Kardiologie – Kardiologieinformationssystem – CIS).
Stufe 1
Die vorhandenen IT-Systeme Apotheke, LIS, RIS, CIS und ein digitales Röntgenbildarchiv – PACS erstellen abgestimmte Patientenberichte, -befunde und -dokumente. Das Krankenhaus ist durch den Einsatz strategischer Instrumente darauf vorbereitet, widerstandsfähiger gegen unvorhergesehene Ereignisse zu werden und seinen Krankenhausbetrieb kontinuierlich fortzusetzen (Einführung von Resilienzmanagement-Plänen). In einem federführenden IT-System (z. B. KIS) werden die notwendigen Behandlungsdokumente (z. B. digitale Fallakte) vorgehalten, Laborwerte können aus dem LIS an das KIS übermittelt werden. Das KIS kann DICOM- und NICHT-DICOM-Bilder empfangen, Ärzte können aus dem KIS auf die Bilddaten zugreifen (z. B. Röntgenbilder, Sonografiebilder). Für jedes IT-System gibt es ein Ausfallszenario (Business-Resilienz-Pläne – z. B. IT-Notfallpläne), in dem beschrieben wird, wie Umfang und Dauer der Ausfälle sich auf den Betrieb des Krankenhauses auswirken.
Stufe 2
Das Krankenhaus führt ein klinisches Datenrepository (Clinical Data Repository – CDR) ein. Das CDR bietet Zugriff auf Ergebnisse und Berichte der Patientenbehandlung. Zusätzlich stehen eine IT-Governance und eine Richtlinienkontrolle zur Verfügung. Ärzte erhalten in den untergeordneten IT-Systemen (z. B. EKG-System) erste Ansätze für eine klinische Entscheidungsunterstützung. Für alle IT-Systeme, insbesondere Pflegedokumentation, werden zertifizierte Schulungsunterlagen bereitgestellt. Es gibt ein eingeführtes System zur Überwachung der IT-Sicherheit. Im Rahmen eines Krankenhausinternen Qualitätsmanagements (QM) wird zusätzlich ein klinisches Überwachungssystem (Governance) eingeführt, mit dem die Definitionen von Arbeitsabläufen und Behandlungszielen abgebildet und beschrieben werden. Es gibt digitale Verfahren für die Unterstützung der Visite am Krankenbett. Die Probenentnahme von Laborproben und die Transfusionsmedizin sind in den klinischen Alltag implementiert worden.
Die IT-Infrastruktur wird mit einem IT-Managementsystem überwacht. Innerhalb dieses Systems gibt es ein IT-Änderungsmanagement mit integrierter Plausibilitätsprüfung. Klinische Applikationen und Anwendungen werden nach einer vorgegebenen Kritikalität (niedrig, mittel, hoch) priorisiert, im Kontext der Umsetzung eines Business-Continuity-Plans (BCP). Damit wird der Geschäftsbetrieb des Krankenhauses im Falle unerwarteter Störungen und Ausfälle versucht aufrechtzuerhalten. Die IT-Sicherheit nimmt einen hohen Stellenwert im Krankenhaus ein, wird von den Mitarbeitern getragen und das Krankenhaus ist resilient gegen Cyberangriffe und IT-Ausfälle.
Stufe 3
Die Nutzung des CDR hat einen ausgereiften Grad erreicht. Die Zugriffe auf das CDR erfolgen über ein eingeführtes Rollen- und Rechtekonzept. Klinisch tätigem Personal stehen digitale Tools zur Verfügung, mit denen die klinische Dokumentation unterstützt wird. Für die Verordnung von Medikamenten wird eine digitale Medikationsaufzeichnung eingeführt (eMAR); diese ist integriert in das elektronische Fallaktensystem und dient dazu, die Medikationsfehler zu reduzieren. Das Patientendokumentationssystem verfügt über den digitalen Anschluss an externe regionale und nationale Unterstützungssysteme (z. B. Register oder Meldesysteme). In der Patientenpflege wurde bereits Point of Care Medizin eingeführt (z. B. Labormessungen eines eingeschränkten Analysespektrums am Patienten direkt am Krankenbett, im Operationssaal oder in der Intensivmedizin). Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme sind noch weiter in die Patientenbehandlungssysteme integriert worden. Für den Zugriff auf alle medizinischen Applikationen wurde ein rollenbasiertes Zugriffssystem (Identity and Access Management System – IAM) eingeführt, welches mit der jeweiligen Rolle des Mitarbeiters im Krankenhaus abgestimmt ist. Die IT-Sicherheit wird weiter verbessert, geplante und ungeplante IT-Ausfälle sind in Ausfallplänen dokumentiert, die betriebliche Resilienz wird weiter gestärkt und dokumentiert.
Stufe 4
Ein CPOE-System (Computerized Practitioner Order Entry) für die digitale Auftragserstellung in den Systemen (Apotheke, LIS, RIS, CIS) wird eingeführt. Dies erfolgt im Kontext der Überwachung der Medikation mit einem geschlossenen Medikationssystem (Closed Loop Medication Management) mit digitaler Verschreibung, pharmazeutischer Validierung und Unit-Dose-Versorgung zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit.
Zur Verbesserung der klinischen Entscheidungsunterstützung wird ein CDS (Clinical Decision Support) eingeführt, zum Beispiel zur Unterstützung von Medikationswarnungen, Best-Practice-Benachrichtigungen, Bestell-Sets, Dokumentationsvorlagen, klinischen Referenzinformationen und Anwendung evidenzbasierter Leitlinien. CDS-Tools versorgen Kliniker, Mitarbeiter, Patienten und andere Personen im Versorgungskontinuum der Patientenbehandlung mit Wissen und patientenspezifischen Informationen am richtigen Ort, im richtigen Format und zur richtigen Zeit, um die Patientenbehandlung weiter zu verbessern.
Die IT-Sicherheit wird so erhöht, dass bei einem Ausfall der Hauptdokumentationssysteme für die Behandelnden Notfalldokumentationssysteme zur Verfügung stehen. Die Ziele für die Patientenzufriedenheit werden in den klinischen Applikationen hinterlegt und stehen allen stationären und ambulanten Funktionsbereichen zur Verfügung.
Ein Krankenhausinterner Überprüfungsausschuss (Clinical Governance Committee) überwacht die im QM integrierte sichere, effiziente und patientenkonzentrierte medizinische Versorgung, zum Beispiel durch
- sichere patientenzentrierte Pflege,
- Meldung von Vorkommnissen (Critical Incident Reporting System – CIRS),
- Überwachung von Morbidität und Mortalität (M&M-Konferenzen) usw.
auf Wirksamkeit, Benutzerfreundlichkeit und Compliance. Die Patientendaten werden rechtskonform gesichert durch moderne revisionssichere Archive. Die IT-Sicherheit wird von allen Mitarbeitenden anerkannt und gelebt. Die IT-Systeme werden auf plattformähnlicher Infrastruktur vorgehalten und strategisch im laufenden Betrieb nach vorne entwickelt und ausfallsicher betrieben.
Stufe 5
Die Integration von medizinischen Daten aus externen Datenquellen (z. B. telemedizinische Daten) wird in die laufende Behandlung eingeführt. In der laufenden digitalen Patientenakte werden durch integrierte Online-Tools die klinischen Parameter überwacht und bei Überschreiten von eingestellten Alarmen und Parametern werden Echtzeitwarnungen ausgegeben. Stationäre und ambulante Telemedizin und virtuelle Pflegeprozesse (z. B. virtuelle Sprechstunde) sind im klinischen Alltag verfügbar und über interoperable Schnittstellen im Pflegeprozess integriert. Telemedizin wird genutzt, um dem Patienten Überwachung, Beratung und virtuelle Behandlung vor der Aufnahme in die Klinik als auch nach der Entlassung anzubieten.
Systeme zur Abwehr unbefugter Zugriffe auf die IT-Applikationen (Intrusion Prevention Systems – IPS) sind fester Bestandteil der Netzwerküberwachung. Die Bereitstellung von klinischen Online-Tools ist ein Standard in der patientenzentrierten Behandlung. Die Echtzeit-gesteuerte Pflege (z. B. durch zeitgesteuerte automatisierte Medikationssteuerung) wurde eingeführt. Es werden dauerhaft die Effizienz und die Produktivität (z. B. durch integrierte Erfolgskontrolle) der Pflegequalität untersucht und arbeitstäglich berichtet (z. B. bei Schichtübergaben der Pflege oder Verlegung des Patienten).
Digital angeordnete Überwachung von Vitalparametern (z. B. Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung) oder digital angeordnete Laborparameter werden in Echtzeit in der Pflegedokumentation angezeigt. Bei einer Überschreitung von eingestellten Grenzwerten erfolgt in der Dokumentation eine automatische Warnung über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten (integriertes medizinisches Risikomanagement).
Vorher erfolgte bereits die Einführung eines interoperablen auf der IHE-Initiative kollaborierten Verfahrens (IHE – Integrating the Healthcare Enterprise), zur Integration von Dokumenten aus externen Quellen in das CDR (z. B. über den CDA – Clinical Document Architecture Dokumentenstandard). Es findet eine kontinuierliche Überwachung von CPOE durch das Clinical Governance Committee statt (z. B. Wirksamkeitsprüfung, Prüfung auf effizientes Arbeiten des Personals). Klinische Behandlungsergebnisse werden kontinuierlich anhand von Kennzahlen gemessen. Die Einführung von Data Analytics Governance erfasst alle Daten, ermittelt daraus Kennzahlen und bereitet diese zur Auswertung durch die Geschäftsführung im Krankenhaus auf (Prozessoptimierung, Effizienzverbesserung, Kostenreduktion bei der Datenhaltung, Verbesserung der Datenqualität, Schaffen von Vertrauen in die eigenen Daten usw.).
Stufe 6
Über vorbereitete IT-Plattformen wird die vollständige interoperable Integration von aktiven Medizinprodukten umgesetzt (z. B. alle vernetzten Medizinprodukte). Visionär erfolgt die Vorbereitung zur Integration von mobilen Medizinprodukte-Devices (z. B. Wearables und aktiven Implantaten). Es erfolgt ein Austausch von Gesundheitsdaten solcher Patienten, die mit mobilen aktiven Medizinprodukten versorgt wurden und für die es eine Nachsorge gibt (z. B. proaktives Monitoring über Mobilfunkintegration). Derzeitiger Standard ist 5G. Der zukünftige 6G-Mobilfunkstandard wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Typische Use Cases sind: z. B. Biosignalmonitoring, kollaboriertes Zusammenarbeiten in der medizinischen Versorgung (z. B. visuelle Unterstützung über AR/VR, Smart Hospital Anwendungen).
Der Austausch der Gesundheitsdaten unterstützt die gemeinsame Datennutzung von selbstberichtenden Ergebnisdaten. Das Krankenhaus verfügt über eine Plattform zur Anbindung von Online-Diensten. Durch den eingeführten IHE-Standard erfolgt die Integration strukturierter oder IHE-codierter Daten aus externen Quellen in das CDR. Die Patientenzufriedenheit wird digital gemessen (z. B. durch die Nutzung von Klinik-Apps und Patientenportalen). Patienten können auf freigegebene Patientendaten zugreifen, z. B. Aufklärungsdaten, Entlassungsberichte usw. Sie können auch auf einen Teil der bei ihnen erhobenen Daten zugreifen (z. B. Medikationsplan, EKG-Bericht, DICOM und NICHT-DICOM-Bilder). Über Apps oder Portale können Patienten eigene Ergebnisdaten zurückmelden (z. B. Fortschritte bei empfohlenen Therapien).
Ein Analytics-Governance System wird eingeführt (z. B. Dokumentation und Messung der Häufigkeit unerwünschter Ereignisse – Sentinel Events / Never Events) mit der Möglichkeit von Trends und Rückschauen über 12 Monate. In intensivmedizinischen Bereichen (Intensivstation, interdisziplinäre Notaufnahme, postoperative und intermediate Care Stationen, Anästhesie usw.) sind vollständig Patientendatenmanagementsysteme (PDMS) ausgerollt und die vernetzten Medizinprodukte berichten in Echtzeit interoperabel an das PDMS. Das Clinical Governance Committee und das Data Governance Team optimieren gemeinsam die Erfassung der klinischen Versorgungsergebnisse und ermitteln daraus Qualitätsdefizite und Prioritäten für die Überwachung der Patientensicherheit.
Stufe 7
Daten aus externen Quellen werden vollständig integriert. Patienten, die externe Services nutzen (z. B. Patientenmonitoring von Vitaldaten oder Biosignaldaten), erhalten vom Krankenhaus generierte Benachrichtigungen und Erinnerungen, um die selbstverwaltete Patientenversorgung in der häuslichen Umgebung zu unterstützen. Dazu werden automatisierte Tools genutzt, welche die Messwerte der Patientenergebnisse auswerten und digital berichten. Die digitale Infrastruktur des Krankenhauses wird an die dynamische Patienteneinbindung z. B. über externe Datenquellen auf einer dafür vorgesehenen sicheren IT-Plattform konfektioniert.
Die medizinische Fallakte wird in eine von Datensilos befreite digitale Patientenakte EMR (Electronic Medical Record) überführt. Relevante Patientendaten von Akutpatienten sind in der EMR für das klinische Personal an jedem digitalen Arbeitsplatz einsehbar. Durch die digitale Überwachung vermeidbarer Sentinel Events/Never Events steigt die Patientenzufriedenheit. Die EMR ist auf die Bedürfnisse der Kliniker in den unterschiedlichen stationären und ambulanten Klinikbereichen optimiert (Idealfall: Klinische Informationen stehen für den Arzt zur richtigen Zeit am richtigen Ort zur Verfügung).
Kontinuierliche Audits stellen sicher, dass der Workflow und die integrierten Tools in der EMR den Anforderungen an den klinischen Alltag entsprechen. Gleichzeitig wird die Einhaltung der freigegebenen klinischen Standards überwacht. Validierte und auditierte IT-Sicherheitsrichtlinien und eine Governance für die Datensicherheit gewährleisten die Sicherheit der Patientendaten zu jedem Zeitpunkt. Sie bilden die Grundlage einer dauerhaften erfolgreichen EMR-Implementierung im Krankenhaus. Regelmäßige kontinuierliche Qualitätssicherungsmaßnahmen in überschaubaren Abständen garantieren dem Krankenhaus die optimale Verwendung aller erforderlichen Daten zur patientenzentrierten Behandlung auf Anwendungsebene der EMR.
Schwierigkeiten und Herausforderungen von
EMRAM
Besondere Schwierigkeiten bedeuten für Krankenhäuser die Einnahme der Stufen 3, 5 und 7 und deren stabile Einhaltung bei notwendigen Audits.
Herausforderungen bei Stufe 3
Aufbau eines Data-Warehouses, Einsatz von CRM zur Analyse von Krankenhauskennzahlen und Einrichtung einer HPC-Serverumgebung für medizinische KI-Prozesse (Abbildung 1)
Abb. 1: Vereinfachte Darstellung der Herausforderungen EMRAM Stufe 3
Herausforderungen bei Stufe 5
Übergang von Krankenhaus 3.0 (digitale Fallakte, Prozessdigitalisierung, Telemedizin, digitales Verordnungsmanagement), zu Krankenhaus 4.0 (Smart Health – vollständige EMR, personalisierte Medizin, KI/AI-Anwendungen). Abbildung 2 stellt vereinfacht die Stufeneinnahme EMRAM-Stufe 5 zum Krankenhaus 4.0 dar.
Abb. 2: Vereinfachte Darstellung der Herausforderungen EMRAM Stufe 5
Herausforderungen bei Stufe 7
Maximale, vollständige Datenintegration, keine Datensilos, vollständige Interoperabilität der Daten, klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (KI-basiert), patientenzentrierte Behandlung, vollständige und dauerhafte papierlose Dokumentation (Abbildung 3).
Abb. 3: Vereinfachte Darstellung der Herausforderungen EMRAM Stufe 7
Fazit
Die inhaltliche Darstellung der Stufenbeschreibungen kann nur beispielhaft aufzeigen, welche Anforderungen EMRAM an die Krankenhausorganisation stellt. Die Umsetzung der einzelnen Stufen ist mit enormen Anstrengungen verbunden, wenn die Stufen bei erforderlichen Audits dauerhaft Bestand haben sollen. Besonders schwierig ist der Übergang von Stufe 2 zu Stufe 3 und der Übergang von Stufe 4 zu Stufe 5. Die Stufe 7 zu erreichen, setzt überdurchschnittliche Anstrengungen und visionäres Engagement voraus.
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens hat in den letzten zwei Jahrzehnten an Dynamik gewonnen, insbesondere mit dem Aufkommen von Innovationen wie dem Internet of Medical Things (IoMT), Telemedizin und KI-basierten medizinischen Tools. Die moderne IT im Branchensektor HealthCare hat sich zu einer digitalen Infrastruktur im Gesundheitswesen entwickelt. Sie sammelt, verwaltet und integriert eine enorme Menge an klinischen, finanziellen und operativen Daten, die vom modernen Gesundheitssystem generiert werden, um seine Sicherheit, Effektivität und Effizienz zu verbessern. Die reine Papierdokumentation ist entweder vorbei oder wird bald vorbei sein (Umstellung von Papier auf Digital).
Bei der digitalen Transformation wird die IT-Infrastruktur auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene alle Prozesse umfassen und nicht wie bisher projekt- oder programmorientiert sein. Bei aller Euphorie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gilt es zu beachten:
„Wir betreiben das Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts in Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert – zunehmend nicht nachhaltig.“
(nach einem Zitat im Britischen Guardian [2])
Das bedeutet, jedes auch noch so ausgefeilte Reifegradmodell kann keine infrastrukturellen Engpässe beseitigen. Bevor die EMRAM-Stufen Schritt für Schritt umgesetzt werden können, ist zu prüfen, ob die Infrastruktur des Krankenhauses für den nächsten Schritt vorbereitet ist. Dieser Sachverhalt ist besonders für die digitale Reifegradentwicklung der Bundeswehrkrankenhäuser von essenzieller Bedeutung.
Der derzeitige digitale Reifegrad deutscher Krankenhäuser unter Einbeziehung des EMRAM-Modells weist darauf hin, dass die Digitalisierung von Krankenhäusern kein Selbstzweck ist. Politik und Krankenhäuser sind gut beraten, sich nicht nur auf die bloße Einführung digitaler Technologien zu konzentrieren, sondern kontinuierlich auf eine Digitalisierung hinzuarbeiten, die von Ärzten und Pflegekräften, die täglich darauf angewiesen sind, als wertvoll empfunden und mitgetragen wird (begleitende Umsetzung von Changemanagement – Mitarbeiter mitnehmen). Darüber hinaus sollten auf Reifegradmodellen beruhende Digitalisierungsstrategien in Krankenhäusern berücksichtigen, dass der angenommene Nutzen einzelner Technologien nicht immer über alle Versorgungsbereiche hinweg Erfolg verspricht.
Die Einrichtungen des Öffentlichen Gesundheitswesens sollen sich bei ihren Digitalisierungsprojekten an einem Reifegradmodell orientieren. Mit Hilfe dieses auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gemeinsam mit Expertinnen und Experten erstellten und erprobten Bewertungsschemas können die Einrichtungen den Stand ihrer bisher erfolgten oder laufenden Digitalisierungsbemühungen selbstständig einschätzen.
Nach Einschätzung des Autors befinden sich die Bundeswehrkrankenhäuser derzeit bei EMRAM-Reifegradstufe 2–3. Die Weiterentwicklung verzögert sich aufgrund der längeren Phase ohne Fortschritte bei der Entwicklung des NEXUS KVI Inland sowie bei der Implementierung einer erforderlichen Interoperabilitätsplattform (IOP). Es gibt zu viele Software-Einzelanwendungen mit störenden Datensilos und die Ablage nicht strukturierter, nicht standardisierter Daten.
Die Infrastruktur der BWI muss (WLAN, MedSAN usw.) dynamischer wachsen, um den aktuellen verteidigungspolitischen Anforderungen im Sanitätsdienst zu folgen. Die Kommunikation zwischen der digitalen Strategieabteilung im Sanitätsdienst und den Bundeswehrkrankenhäusern (Mitarbeiter-Changemanagement) muss verbessert werden, damit mehr Dynamik in den digitalen Reifegradprozess kommt. Eine dauerhafte Auditierung der bisher erreichten Reifegradstufen und die Ableitung weiterer notwendiger strategischer Entwicklungsschritte sind unabdingbar.
Der Ausblick auf die angespannte politische Lage erfordert eine Dynamisierung der digitalen Reifegradentwicklung im Sanitätsdienst im Allgemeinen, im Besonderen in den Bundeswehrkrankenhäusern im Kontext des Austauschs von digitalen Patientendaten zwischen militärischen Einrichtungen und zivilen Gesundheitseinrichtungen. Mit dem Partner BWI und den vertraglich gebundenen weiteren IT-Subdienstleistern wird die weitere digitale Reifegradentwicklung gelingen und kann dazu beitragen, dass die Bundeswehrkrankenhäuser dauerhaft mit den zivilen Krankenhäusern am Gesundheitsmarkt auf Augenhöhe zusammenarbeiten können.
Literatur
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Schönfeld J. Digitale Reifegradmessung nach EMRAM. WWM 2025;69(12):e1.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-785
Für die Verfasser
Dipl.-Ing. Jörg Schönfeld
Abteilung M – Medizintechnik
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Scharnhorststraße 13, 10115 Berlin
E-Mail: joergschoenfeld@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Schönfeld J. [Digital maturity measurement according to EMRAM]. WWM 2025;69(12):e1.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-785
For the Authors
Senior Biomedical Engineer Dipl.-Ing. Jörg Schönfeld
Department Biomedical Engineering
Bundeswehr Hospital Berlin
Scharnhorststraße 13, D-10115 Berlin
E-Mail: joergschoenfeld@bundeswehr.org
Kopfschmerzerkrankungen in der Bundeswehr:
Phänotypen, dienstliche Auswirkungen und Perspektiven der medizinischen Versorgung
Headache Disorders in the Bundeswehr:
Phenotypes, Operational Impact, and Evolving Perspectives in Medical Care
Ursula Müllera,b, Hanno Wittec, Katja Heinze-Kuhnb, Axel Heinzeb, Anna Cirkelb,e, Hartmut Göbelb, Carl H. Göbelb,d
a Klinik für Neurologie, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
b Schmerzklinik Kiel, Migräne- und Kopfschmerzzentrum, Kiel
c Klinik für Innere Medizin, Bundeswehrkrankenhaus Ulm
d Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
e Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Zusammenfassung
Kopfschmerzerkrankungen, insbesondere Migräne, betreffen vor allem junge Erwachsene und können die Dienstfähigkeit und Einsatzbereitschaft von Soldatinnen und Soldaten erheblich beeinträchtigen. Daten zur krankheitsbedingten Beeinträchtigung, Relevanz für die Dienstfähigkeit und zur Versorgungssituation von Kopfschmerzbetroffenen in der Bundeswehr waren bislang nicht verfügbar.
Im Rahmen einer bundesweiten, anonymen Online-Querschnittsanalyse wurden zwischen Mai und Juli 2023 sowohl Soldatinnen und Soldaten (n = 914) als auch truppenärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte (n = 90) befragt. Erfasst wurden die Kopfschmerzphänotypen gemäß der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD-3), die dienstliche Beeinträchtigung gemäß MIDAS-Score sowie diagnostische und strukturelle Aspekte der medizinischen Versorgung, sowohl aus Sicht der betroffenen Soldatinnen und Soldaten als auch der behandelnden truppenärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzte.
56,4 % der teilnehmenden Soldatinnen und Soldaten erfüllten die Kriterien für Migräne oder wahrscheinliche Migräne, 26,5 % für Spannungskopfschmerz und 4,1 % für Clusterkopfschmerz. Über ein Drittel der Betroffenen erreichte im MIDAS-Score eine mittlere bis schwere Beeinträchtigung. Innerhalb von drei Monaten gingen 5 258 Arbeitstage durch Kopfschmerzen verloren. 61,0 % der Betroffenen hatten bisher keine formale Diagnose. Nur 27,3 % der Migränepatienten erhielten eine prophylaktische Medikation. Die Truppenärztinnen und -ärzte berichteten über eine hohe diagnostische Sicherheit bei Migräne und Spannungskopfschmerz, jedoch Unsicherheiten bei Cluster- und Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Eine medikamentöse Prophylaxe bei beeinträchtigenden Kopfschmerzen werde nur von 27,8 % regelmäßig initiiert. Die Analysen der Versorgungssituation weisen auf strukturelle Defizite hin, u. a. fehlende SOPs, eingeschränkte fachärztliche Mitbehandlung und begrenzte nicht-medikamentöse Angebote.Kopfschmerzerkrankungen in der Bundeswehr führen bei den Betroffenen zu ausgeprägtem Leidensdruck, erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten und einer Unterversorgung.
Zur Sicherung der Dienst- und Einsatzfähigkeit sind erforderlich: Früherkennung und standardisierte Diagnostik von Kopfschmerzerkrankungen, leitliniengerechte Akuttherapie und Prophylaxe, Ausbau praxisnaher Fortbildungen, Verbesserung der fachärztlichen Mitbehandlung durch gezielte Überweisungspfade und telemedizinische Unterstützung. Eine adäquate und leitlinienkonforme Behandlung von Soldatinnen und Soldaten mit Kopfschmerzerkrankungen sollte als ein fester Bestandteil der truppenärztlichen medizinischen Versorgung und Einsatzmedizin etabliert werden.
Schlüsselworte: Migräne, Spannungskopfschmerz, Clusterkopfschmerz, Bundeswehr, ICHD-3, MIDAS, Beeinträchtigung, Einsatzbereitschaft, Truppenärzte, Versorgung
Summary
Headache disorders, particularly migraine, predominantly affect young adults and can substantially compromise the operational readiness of active military personnel. Reliable data on disease-related impairment, relevance for fitness for duty, and the current state of care in the Bundeswehr have previously been lacking.
Between May and July 2023, a nationwide, anonymous online cross-sectional survey was conducted among soldiers (n = 914) and primary-care military physicians (n = 90). Headache phenotypes were classified according to the International Classification of Headache Disorders (ICHD3). Service-related impairment was assessed using the Migraine Disability Assessment (MIDAS) score. Diagnostic patterns and structural aspects of medical care were evaluated from both soldiers’ and military physicians’ perspectives.
56.4 % of soldiers met the criteria for migraine or probable migraine, 26.5 % for tension-type headache, and 4.1 % for cluster headache. Over one-third of affected soldiers reported moderate to severe MIDAS-related disability, corresponding to 5,258 workdays lost within three months. 61.0 % of those affected had never received a formal diagnosis of headaches. Only 27.3 % of migraine patients reported use of preventive medication. Military physicians reported high diagnostic confidence for migraine and tension-type headache but noted uncertainty regarding cluster headache and medication-overuse headache. Preventive therapy for disabling headaches is routinely initiated by only 27.8 % of physicians. Analysis of the care situation revealed structural limitations, including the absence of standardized operating procedures (SOPs), restricted access to specialist referrals, and limited non-pharmacological treatment options.
Headache disorders in the Bundeswehr are associated with substantial individual suffering, significant work and duty loss, and remain underdiagnosed and undertreated. Ensuring operational readiness requires: Early detection and standardized diagnosis, a guideline-based acute and preventive therapy, structured training for military physicians, and improved access to specialist care through targeted referral pathways and support by telemedicine. Integrating comprehensive, guideline-based headache management into primary military medical care and tactical medicine is crucial for maintaining operational readiness.
Keywords: migraine; tension-type headache; cluster headache; Bundeswehr; ICHD3; MIDAS; disability; operational readiness; military medicine
Einleitung und Hintergrund
Kopfschmerzerkrankungen gehören zu den häufigsten neurologischen Beschwerden und betreffen insbesondere junge Erwachsene in ihrer aktivsten Lebensphase [7][28][29]. Migräne und Spannungskopfschmerzen sind dabei nicht nur ein individuelles Gesundheitsproblem, sondern wirken sich auch unmittelbar auf den Dienstalltag und die Einsatzbereitschaft aus. Gerade in militärischen Strukturen, in denen körperliche und psychische Belastbarkeit von zentraler Bedeutung sind, können akute Schmerzattacken oder chronische Erkrankungsverläufe zu erheblichen Leistungseinbußen führen.
Migräne und andere Kopfschmerzerkrankungen betreffen überwiegend junge Erwachsene, wobei die höchste Prävalenz im vierten Lebensjahrzehnt auftritt [7][14][22][23][28][29]. Weltweit rangiert die Migräne nach dem Schlaganfall an zweiter Stelle unter den führenden neurologischen Ursachen für verlorene Lebensjahre mit Behinderung (YLD, years lived with disability) [7][9][28][29]. Über alle Altersgruppen und Geschlechter hinweg ist sie die zweithäufigste Ursache für Behinderung, bei jungen Frauen steht sie sogar an erster Stelle [9][26].
Kopfschmerzerkrankungen im militärischen Kontext
Kopfschmerzerkrankungen, insbesondere Migräne, sind besonders in militärischen Populationen weltweit ein relevantes Gesundheitsproblem. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben zahlreiche internationale Studien gezeigt, dass Migräne nicht nur zu den am häufigsten diagnostizierten neurologischen Erkrankungen bei aktiv dienenden Soldatinnen und Soldaten gehört, sondern auch zu den folgenreichsten in Bezug auf Diensttauglichkeit, operative Einsatzbereitschaft und langfristige Gesundheitsfolgen [1–6][8][10][11][15–21][24][25][30–32]. Besonders bedeutsam ist die Migräne im Kontext posttraumatischer Kopfschmerzen (PTH) nach leichten Schädel-Hirn-Traumata (mild TBI), wie sie bei militärischen Einsätzen häufig auftreten. Systematische Analysen in den US-Streitkräften zeigten, dass Migräne-ähnliche Kopfschmerzen den häufigsten Subtyp posttraumatischer Kopfschmerzen darstellen, mit Prävalenzen zwischen 33 % und 92 % [20]. Retrospektive Untersuchungen belegten, dass weniger die Diagnose „Migräne“ selbst, sondern vor allem Dauer und Persistenz der Schmerzen über die weitere Dienstfähigkeit entscheiden. Soldaten mit persistierenden Kopfschmerzen haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Dienstunfähigkeit und Entlassung, unabhängig von der genauen Kopfschmerzklassifikation [11].
Fliegendes Personal
Besonders kritisch ist die Situation für fliegendes Personal. Studien an Piloten und Fliegerärzten der US Air Force zeigten, dass Migräne mit Aura und isolierte Aura-Episoden ohne Kopfschmerz häufig auftreten und trotz überwiegend erhaltener Flugtauglichkeit ein relevantes Risiko für die Flugsicherheit sind [17]. Retrospektive Analysen bei Army- und Air-Force-Piloten identifizierten Migräne als einen der häufigsten Gründe für permanente Fluguntauglichkeit, teils noch vor posttraumatischen Belastungsstörungen. Selbst seltene Migräneattacken, insbesondere mit Aura, können für das fliegende Personal zu temporären oder dauerhaften Einschränkungen führen, da flugmedizinische Richtlinien neurologische Symptome mit plötzlichem Funktionsausfall als hoch relevant für die Einsatzfähigkeit bewerten [19][21].
Komorbiditäten
Ein weiteres zentrales Thema ist die enge Verknüpfung von Kopfschmerzen mit psychischen Komorbiditäten. Studien aus den USA, Kanada und Israel zeigen, dass Migräne in militärischen Populationen häufig gemeinsam mit PTSD, Depressionen oder Angststörungen auftritt und diese Komorbiditäten den Funktionsverlust stärker vorhersagen als die Kopfschmerzintensität allein. Diese psychophysischen Wechselwirkungen sind ein wesentlicher Faktor für die Chronifizierung und die Reduktion der Einsatzbereitschaft [3][25][32].
Relevanz im Einsatz
Auch in Einsatz- und Kampfgebieten ist die Relevanz von Kopfschmerzen hoch. Eine Analyse der Aufnahmen im britischen Feldhospital Camp Bastion in Afghanistan zeigte, dass Migräne zu den zehn häufigsten Diagnosen gehörte und sogar häufiger auftrat als einige kardiovaskuläre Erkrankungen [8]. US-amerikanische Daten belegen, dass Kampfeinsätze mit Feindkontakt das Risiko für Migräne deutlich erhöhen und dass bis zu 40–45 % dieser Zunahme auf Schlafstörungen, psychischen Stress und einsatzbedingte Verletzungen zurückzuführen sind [4][18]. Insbesondere Soldatinnen entwickeln nach Mehrfacheinsätzen eine höhere Migräneprävalenz, wie auch ein häufigeres Auftreten von PTSD und muskuloskelettalen Erkrankungen [1].
Prävalenz von Kopfschmerzen in Streitkräften
Langzeitdaten der US-Streitkräfte zeigen zudem eine stetige Zunahme von Migräne- und Kopfschmerzdiagnosen in den letzten Jahrzehnten, mit ausgeprägten Geschlechtsunterschieden. Soldatinnen weisen höhere Prävalenzen, mehr ambulante Konsultationen und eine intensivere Behandlungsfrequenz auf als ihre männlichen Kameraden [1][2]. Bei evakuierten Soldaten aus Einsatzgebieten wie Irak und Afghanistan lag die Return-to-Duty-Rate trotz Behandlung häufig unter 40 %, insbesondere bei posttraumatischen Kopfschmerzen und Migräne. Negative Prädiktoren waren Aura, begleitendes Schädel-Hirn-Trauma, Opioid- oder Betablocker-Therapie sowie psychiatrische Komorbiditäten [5][10].
Die vorliegenden internationalen Studien verdeutlichen somit, dass Migräne und andere Kopfschmerzerkrankungen im militärischen Kontext nicht nur eine hohe Prävalenz haben, sondern auch eine erhebliche operative und strategische Relevanz besitzen. Sie beeinflussen Einsatzfähigkeit, Flug- und Diensttauglichkeit, verursachen signifikante Ressourcenbindung und stehen in enger Wechselwirkung mit psychischen Belastungen. Eine frühzeitige Diagnostik, die Berücksichtigung psychophysischer Zusammenhänge und die Implementierung multimodaler Therapieansätze sind daher entscheidend, um die Einsatzbereitschaft zu erhalten und langfristige Dienstunfähigkeit zu vermeiden.
Kopfschmerzerkrankungen in der Bundeswehr
Es ist anzunehmen, dass auch für die Bundeswehr, die mit rund 183 000 aktiven Soldatinnen und Soldaten über ein breites Einsatzspektrum im In- und Ausland verfügt, Kopfschmerzerkrankungen von erheblicher Bedeutung sind. Bislang fehlten jedoch systematische Daten zum Auftreten, zu den Auswirkungen auf die Dienstfähigkeit und zur medizinischen Versorgungssituation von Kopfschmerzbetroffenen. Primäre Kopfschmerzerkrankungen und deren Folgen könnten eine relevante Herausforderung für die truppenärztliche Versorgung und die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft sein.
Vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz von Kopfschmerzerkrankungen und deren potenzieller Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der Truppe verfolgte die vorliegende Untersuchung das Ziel, das Auftreten und die Auswirkungen von Kopfschmerzen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr systematisch zu erfassen. Darüber hinaus wurde die Versorgungssituation sowohl aus Sicht der Soldatinnen und Soldaten als auch aus Perspektive der behandelnden Truppenärztinnen und -ärzte analysiert. Auf Basis dieser Erkenntnisse sollten praxisnahe Handlungsempfehlungen für die Diagnostik, Therapie und Versorgung von Kopfschmerzpatientinnen und -patienten im militärischen Kontext der Bundeswehr abgeleitet werden, um die Funktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft langfristig zu sichern. Die Ergebnisse werden hier zusammenfassend berichtet; die vollständigen Analysen und methodischen Details sind in den Publikationen von Göbel et al. [12][13] beschrieben.
Methoden
Studienaufbau und Zielsetzung
Die Untersuchung wurde als Querschnitts-Onlinebefragung im Zeitraum vom 15. Mai bis 31. Juli 2023 durchgeführt. Ziel war es, die klinischen Charakteristika, kopfschmerzbedingten Beeinträchtigungen und dienstlichen Auswirkungen sowie die diagnostische und therapeutische Versorgung von Kopfschmerzerkrankungen bei Soldatinnen und Soldaten systematisch zu erfassen. Ergänzend sollte die Perspektive der truppenärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzte einbezogen werden, um Anforderungen, Herausforderungen und Versorgungslücken in der Versorgung von Kopfschmerzbetroffenen in der Bundeswehr zu identifizieren.
Die Studie bestand aus zwei komplementären Teilen:
1. Soldatenbefragung:
Eingeschlossen waren alle aktiven Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Alter von 18 bis 65 Jahren. Die Rekrutierung erfolgte über die regionalen Sanitätseinrichtungen der Bundeswehr (7 Sanitätsunterstützungszentren, 120 Sanitätsversorgungszentren, 10 Außenstellen). Informationsflyer mit QR-Codes wurden vor Ort ausgelegt und in den Einheiten verteilt. Erinnerungsschreiben und die erneute Zusendung per E-Mail an die Leiter der Sanitätseinrichtungen erfolgten in der 7. und 9. Woche der Erhebungsphase.
2. Truppenarztbefragung:
Die Befragung richtete sich an alle aktuell in der Bundeswehr tätigen Ärztinnen und Ärzte der truppenärztlichen Versorgung. Diese wurden über dasselbe Informationsschreiben, das im Zusammenhang mit der Soldatenbefragung an die Sanitätseinrichtungen versendet wurde, mit einem entsprechenden Hinweis und separatem Link und QR-Code zur Teilnahme eingeladen.
Die Teilnahme war freiwillig und anonym. Ein Abbruch war bis zum Absenden des Fragebogens jederzeit möglich; eine nachträgliche Rücknahme war aus Datenschutzgründen nicht mehr möglich.
Ethik und Datenschutz
Die Umfrage wurde als wehrmedizinisches Sonderforschungsvorhaben durch das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (Kennziffer 48K3-S-33 2323) genehmigt und von der Ethikkommission der Universität Kiel (AZ: D 453/23) zustimmend bewertet. Die Studie erfolgte im Einklang mit der Deklaration von Helsinki sowie den geltenden nationalen Datenschutzbestimmungen.
In einem der Online-Umfrage vorgeschalteten einleitenden Text wurden die Teilnehmenden umfassend über Zweck, Umfang, Freiwilligkeit und Anonymität der Studie und Datenschutzaspekte informiert. Die Zustimmung erfolgte elektronisch durch das Klicken des „Weiter“-Buttons. Es wurden keine personenbezogenen Daten erhoben; die Auswertung erfolgte vollständig anonymisiert.
Fragebögen und Inhalte
Die Soldatenbefragung umfasste 33 Items:
- demografische Daten (Alter, Geschlecht, Dienstgradgruppe, Truppenteil, Bundesland, Anzahl der Einsatztage der letzten 12 Monate)
- Kopfschmerzerleben (Lebenszeit- und12-Monatsprävalenz, Anzahl der Kopfschmerztage in den letzten 30 Tagen)
- Klassifikation nach ICHD3 für Migräne, Spannungskopfschmerz und Clusterkopfschmerz; Mehrfachangaben waren möglich
- Häufigkeit von Kopfschmerztagen, Attackencharakteristika, Kopfschmerzphänotypen
- Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung, erhaltene Diagnosen, medikamentöse Akut- und Prophylaxetherapie
- Kopfschmerzbedingte Einschränkungen mittels Migraine Disability Assessment Score (MIDAS) [27]
- Optionale offene Freitextfrage zu wahrgenommenen Versorgungslücken und Verbesserungsvorschlägen für die Versorgung von Betroffenen
Die Truppenärztebefragung bestand aus 15 Items:
- persönlichen und beruflichen Daten (Alter, Fachrichtung, Jahre der Berufserfahrung)
- Häufigkeit von Kopfschmerzpatienten in der truppenärztlichen Sprechstunde
- Fragen zum Wissen zu Kopfschmerzerkrankungen und Sicherheit in der Diagnosestellung
- Praxis im Umgang und in der Behandlung von Kopfschmerzpatienten, u. a. zum Einsatz von Akuttherapien und prophylaktischen Therapien
- Einschätzung des Fortbildungsbedarfs
- Optionale offene Freitextfrage für Vorschläge für eine mögliche Optimierung der Versorgungssituation
Beide Fragebögen wurden von einem multidisziplinären Expertengremium aus Neurologie, Kopfschmerzmedizin und militärischem Gesundheitswesen inhaltlich geprüft und an die Kriterien der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (ICHD3) angepasst.
Datenerhebung und Statistik
Die Online-Erhebung erfolgte über das Online-Umfrageportal Questionstar. Vollständig ausgefüllte Fragebögen wurden exportiert und in Microsoft Excel aufbereitet. Die Analyse umfasste ausschließlich vollständige Datensätze, um die diagnostische Zuverlässigkeit und die Berechnung von MIDAS-Scores sicherzustellen. Es wurden Mittelwerte und Standardabweichungen für kontinuierliche Variablen sowie absolute Zahlen und Prozentsätze für kategoriale Variablen ermittelt.
Ergebnisse
Teilnahme und Demografie
An der Online-Befragung nahmen insgesamt 1 189 Soldatinnen und Soldaten teil. Davon schlossen 914 Teilnehmende (77 %) den Fragebogen vollständig ab. Ergänzend nahmen 90 truppenärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte an der Truppenarztbefragung teil.
Die Soldatenkohorte war überwiegend männlich (63,2 %), das Medianalter betrug 35 Jahre. Die meisten Teilnehmenden waren Berufs- oder Zeitsoldaten, mehr als Viertel gehörten Offiziers- oder Feldwebeldienstgraden an. Rund 11 % der Teilnehmenden hatten in den vergangenen 12 Monaten an Auslandseinsätzen teilgenommen. Alle Teilstreitkräfte waren repräsentiert, wobei knapp 38 % der Teilnehmenden Angehörige des Sanitätsdienstes waren.
Die befragten Truppenärztinnen und -ärzte waren überwiegend unter 45 Jahre alt. Etwa ein Drittel verfügte über weniger als 5, ein Drittel über 5–10 und ein weiteres Drittel über mehr als 10 Jahre Berufserfahrung. Die Teilnehmenden waren mehrheitlich in der Allgemeinmedizin tätig oder befanden sich in der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Kein Teilnehmender befand sich in neurologischer Facharztweiterbildung.
Auftreten und Kopfschmerztypen bei Soldatinnen und Soldaten
Von den 914 teilnehmenden Soldatinnen und Soldaten berichteten 94,9 % über Kopfschmerzen im letzten Jahr. 56,4 % erfüllten die Kriterien für Migräne oder wahrscheinliche Migräne, 26,5 % für Spannungskopfschmerz und 4,1 % für Clusterkopfschmerz. Mehrfachdiagnosen waren häufig: 148 Teilnehmende erfüllten die Diagnosekriterien sowohl für Migräne als auch für Spannungskopfschmerz, 29 für Migräne und Clusterkopfschmerz, 13 für Spannungskopfschmerz und Clusterkopfschmerz.11 Teilnehmende erfüllten die Kriterien aller drei Kopfschmerztypen.
Besonders auffällig war der Einfluss von Auslandseinsätzen auf die Migränehäufigkeit: Unter den 107 Befragten mit Einsatztagen in den vergangenen 12 Monaten berichteten 96,3 % Kopfschmerzen und 29,0 % erfüllten die Migränekriterien. Bei Teilnehmenden mit mehr als 90 Einsatztagen stieg die Migränequote auf 33,3 % an.
Diagnose- und Versorgungslage
Die Analyse der Versorgung führte zu folgenden Ergebnissen:
- 61,0 % der Betroffenen hatten nie eine formale Kopfschmerzdiagnose erhalten.
- Nur 38,6 % nahmen jemals ärztliche Hilfe in Anspruch.
- Nur 27,3 % der Migränepatientinnen und -patienten erhielten eine Prophylaxe.
- Akuttherapien bestanden überwiegend aus freiverkäuflichen Analgetika (v. a. Ibuprofen, Paracetamol). Triptane wurden von 32,6 % der Migränebetroffenen eingesetzt. Eine Übernutzung (≥10 Einnahmetage/Monat) berichteten 10,6 % der Teilnehmer, eine tägliche Einnahme 0,7 %.
Kopfschmerzbedingte Dienstbeeinträchtigungen
Die Analyse der dienstlichen Einschränkungen zeigte:
- 63,8 % der 839 Teilnehmer mit Kopfschmerzen im letzten Jahr berichteten mindestens einen Tag mit Arbeitsausfall oder ≥50 % Produktivitätseinbuße in den letzten 3 Monaten.
- Innerhalb von 3 Monaten gingen 5 258 Arbeitstage durch Kopfschmerzen verloren, das entspricht durchschnittlich 2,1 verlorene Arbeitstage pro Person im Monat.
- Bei Teilnehmenden mit Migräne lagen die Ausfalltage im Durchschnitt bei 3,9 Tagen/Monat. 41,4 % hatten eine schwere Beeinträchtigung (MIDAS).
- Clusterkopfschmerzen führten in über der Hälfte der Fälle zu einer schweren Behinderung.
Ergebnisse der Truppenarztbefragung
Die befragten Ärztinnen und Ärzte sahen in der Woche vor der Befragung mehrheitlich 1–5 Kopfschmerzpatientinnen und -patienten, einzelne bis zu 20. Kopfschmerzpatientinnen und -patienten machten 5–10 % des truppenärztlichen Alltags aus.
- Diagnose: Die Diagnosesicherheit war hoch bei Migräne (83,4 %) und Spannungskopfschmerz (77,8 %), geringer bei Medikamentenübergebrauch (65,5 %) und Clusterkopfschmerz (47,8 %)
- Therapie: Akuttherapien wurden breit eingesetzt; eine prophylaktische Medikation wurde nur von 27,8 % der Truppenärztinnen und -ärzte regelmäßig initiiert. Die Mehrzahl der Ärztinnen und Ärzte (81,1 %) klärte regelmäßig über nicht-medikamentöse Therapieoptionen (Flüssigkeitszufuhr, Ausdauertraining, Entspannung) auf. Kopfschmerztagebücher wurden von zwei Dritteln häufig genutzt.
- Strukturelle Hürden: Genannte Probleme waren fehlende SOPs, Zeitmangel und eingeschränkte Überweisungsmöglichkeiten zu militärischen Fachneurologen.
- Fortbildungsbedarf: 92,2 % der Truppenärztinnen und -ärzte wünschten sich praxisnahe Kopfschmerzschulungen; nur 23,3 % kannten die ICHD3-Klassifikation, 58,9 % die nationalen DGN-Leitlinien.
Verbesserungsvorschläge aus beiden Befragungen
In den Freitextangaben nannten sowohl Soldatinnen und Soldaten als auch Truppenärztinnen und -ärzte konkrete Handlungsfelder:
- Ernstnehmen und Entstigmatisierung von Kopfschmerzerkrankungen im militärischen Alltag,
- schnellere und konsequentere Diagnostik mit standardisierten Abläufen (SOPs),
- verbesserter Zugang zu neurologischen Fachstrukturen und Prophylaxetherapien,
- Fortbildungsangebote und Aufklärungsmaterial für Betroffene und Sanitätspersonal sowie
- strukturelle Entlastungen wie weniger Bürokratie bei Medikation, Krankschreibung und Überweisungen.
Die Ergebnisse belegen eine hohe Krankheitslast, ausgeprägte Versorgungslücken und die Notwendigkeit eines strukturierten, leitlinienbasierten Kopfschmerzmanagements zur Sicherung der Dienstfähigkeit und Einsatzbereitschaft.
Diskussion
Die vorliegende Untersuchung ist die erste systematische Analyse zu Kopfschmerzerkrankungen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die sowohl die Perspektive der Betroffenen als auch die der truppenärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzte einbezieht. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Krankheitslast, eine deutliche Unterdiagnostik und Untertherapie sowie strukturelle Defizite in der Versorgung, die unmittelbare Auswirkungen auf Dienstfähigkeit und Einsatzbereitschaft haben.
Starke dienstliche Beeinträchtigung
Fast 95 % der teilnehmenden Soldatinnen und Soldaten berichteten über Kopfschmerzen im letzten Jahr, mehr als die Hälfte erfüllte die Kriterien für Migräne oder wahrscheinliche Migräne. Auffällig war die nahezu ausgeglichene Geschlechterverteilung bei Migräne – ein Befund, der von dem in der Allgemeinbevölkerung üblichen Verhältnis von etwa drei zu eins zugunsten der Frauen abweicht, jedoch mit internationalen militärischen Beobachtungen übereinstimmt.
Die dienstliche Beeinträchtigung war erheblich: Im Erhebungszeitraum von drei Monaten gingen über 5 200 Arbeitstage verloren, und mehr als ein Drittel der Betroffenen erreichte im MIDAS-Score eine mittlere bis schwere Beeinträchtigung. Einzelne Teilnehmende berichteten über eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit, insbesondere bei chronischer Migräne oder Clusterkopfschmerz.
Therapiebarrieren
Trotz dieser Belastung hatten 61,0 % der Betroffenen nie eine formale Kopfschmerzdiagnose erhalten, und nur 38,6 % hatten jemals ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Prophylaktische Therapien wurden in weniger als einem Drittel der Fälle eingesetzt – selbst bei chronischer Migräne oder schwerer Beeinträchtigung. Medikamente zur Akutbehandlung von Kopfschmerzen wurden von der Mehrzahl der Betroffenen eingesetzt, häufig als Selbstmedikation mit freiverkäuflichen Analgetika, während Triptane und andere spezifische Migränemedikamente deutlich unterrepräsentiert waren.
Auch die Befragung der Truppenärztinnen und -ärzte verdeutlicht diese Versorgungslücken: Während die Diagnosesicherheit bei Migräne und Spannungskopfschmerz hoch ist, bestehen Unsicherheiten bei Clusterkopfschmerz und Medikamentenübergebrauch. Nur 27,8 % der Truppenärztinnen und -ärzte gaben an, regelmäßig prophylaktische Kopfschmerztherapien einzuleiten. Fehlende SOPs, limitierte Überweisungsmöglichkeiten zu neurologischen Fachärzten, Zeitdruck und personelle Engpässe erschweren die leitliniengerechte Versorgung zusätzlich.
Psychosoziale Dimension und organisatorische Aspekte
Angaben von betroffenen Soldatinnen und Soldaten und behandelnden Truppenärztinnen und -ärzten weisen auf strukturelle und organisatorische Schwächen hin:
- Kopfschmerzen werden im militärischen Alltag oft nicht ausreichend ernst genommen.
- Bürokratische Hürden verzögern Diagnostik, Therapie und fachärztliche Überweisungen.
- Nicht-medikamentöse Maßnahmen und Präventionsangebote sind nur eingeschränkt verfügbar.
Zudem zeigte sich eine hohe Sensibilität für psychische Begleiterkrankungen. Ein integrativer, biopsychosozialer Ansatz ist daher essenziell.
Handlungsbedarf und Empfehlungen
Die Ergebnisse zeigen acht zentrale Handlungsfelder zur Verbesserung der Kopfschmerzversorgung in der Bundeswehr (Tabelle 1):
Tab. 1: Handlungsempfehlungen für die truppenärztliche Versorgung von Soldatinnen und Soldaten mit Kopfschmerzerkrankungen
- Kopfschmerzversorgung als Kernkompetenz der Militärmedizin etablieren, einschließlich Integration in Aus- und Fortbildungsprogramme.
- Gezielte Fortbildungsmodule zu seltenen und sekundären Kopfschmerzformen (z. B. Clusterkopfschmerz, Medikamentenübergebrauchskopfschmerz) entwickeln.
- Therapeutische Lücke schließen durch Förderung des Einsatzes von medikamentösen Prophylaxen über klare SOPs und Algorithmus-basierte Behandlungspfade, unterstützt durch digitale Lösungen.
- Leitlinienbasierte Diagnostik systematisch umsetzen und die praktische Anwendbarkeit in der Routineversorgung sichern.
- Ausgeprägtes Fortbildungsinteresse der Truppenärzte (92 %) nutzen, um kontinuierliche, praxisorientierte und leicht zugängliche Trainingsformate anzubieten.
- Strukturelle Defizite wie fehlende neurologische Ansprechpartner, schwache Koordination und eingeschränkten Telemedizinzugang durch klare Überweisungspfade und Ausbau der Telemedizin beheben.
- Standardisierte Instrumente entwickeln, u. a. SOPs, Kopfschmerztagebücher und Patienteninformationen für die truppenärztliche Praxis.
- Systemische Rahmenbedingungen verbessern, z. B. Zeit- und Personalmangel sowie fehlende nicht-medikamentöse Angebote, und Kopfschmerzversorgung strategisch in die militärische Gesundheitsplanung und Ressourcenzuteilung integrieren.
Limitationen
Die Ergebnisse basieren auf freiwilliger Teilnahme und Selbstangaben, so dass ein Selektions- und Erinnerungsbias nicht auszuschließen ist. Die Stichprobe ist nicht repräsentativ für die gesamte Bundeswehr, und die Kopfschmerzdiagnosen wurden auf der Grundlage von Selbstangaben gemäß ICHD3 gestellt. Dennoch bieten die große Fallzahl, die Einbeziehung aller Teilstreitkräfte und die Kombination von Betroffenen- und Arztperspektive wertvolle Einblicke und eine solide Basis für gezielte Verbesserungen in der Versorgung.
Schlussfolgerung
Kopfschmerzerkrankungen – insbesondere Migräne – sind in der Bundeswehr häufig, dienstlich relevant und überwiegend unzureichend behandelt. Die Folgen für Dienstfähigkeit und Einsatzbereitschaft sind erheblich. Eine strukturierte, leitlinienbasierte Versorgung, kombiniert mit Fortbildung, Standardisierung und organisatorischen Anpassungen, ist dringend erforderlich, um die Lebensqualität zu erhöhen, Dienstausfall zu vermeiden und die Einsatzfähigkeit langfristig zu sichern.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Müller U, Witte H, Heinze-Kuhn K, Heinze A, Cirkel A, Göbel H, Göbel CH. Kopfschmerzerkrankungen in der Bundeswehr: Phänotypen, dienstliche Auswirkungen und Perspektiven der medizinischen Versorgung. WMM 2025;69(12):556-562.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-783
Für die Verfasser
Flottillenarzt d. R. Dr. med. Ursula Müller, MMHM
Schmerzklinik Kiel
Migräne- und Kopfschmerzzentrum
Heikendorfer Weg 9–27, 24149 Kiel
E-Mail: mueller.ursula@schmerzklinik.de
Manuscript Data
Citation
Müller U, Witte H, Heinze-Kuhn K, Heinze A, Cirkel A, Göbel H, Göbel CH. [Headache Disorders in the Bundeswehr: Phenotypes, Operational Impact, and Evolving Perspectives in Medical Care]. WMM 2025;69(12):556-562.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-783
For the Authors
Commander (Navy MC Res) Dr. med. Ursula Müller, MMHM
Kiel Center for Pain Medicine
Migraine and Headache Center
Heikendorfer Weg 9–27, 24149 Kiel, Germany
E-Mail: mueller.ursula@schmerzklinik.de