Künstliche Intelligenz in der präklinischen Notfallmedizin – Chancen, Grenzen und militärische Relevanz
Artificial Intelligence in Preclinical Emergency Medicine – Opportunities, Limitations, and Military
Relevance
Daniel Käthera, Christoph Jäniga, Willi Schmidbauera, Andreas García Bardona
aKlinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Zusammenfassung
Die Anwendung künstlicher Intelligenz (KI) in der präklinischen Notfallmedizin befindet sich in einer dynamischen Entwicklungsphase. Sie reicht von automatisierten Triage-Systemen über Spracherkennungs- und Dokumentationslösungen bis hin zu robotergestützten Rettungseinheiten. Ziel ist es, Einsatzkräfte bei zeitkritischen Entscheidungen zu unterstützen, Informationsverluste zu vermeiden und die Versorgungsqualität zu erhöhen. Zahlreiche Systeme zeigen bereits vielversprechende Ergebnisse: So konnte das KATE-Triagemodell die Genauigkeit der Dringlichkeitseinschätzung im Vergleich zu Pflegekräften deutlich steigern, während Projekte wie ARTEMIS die Perspektive eröffnen, verwundete Personen in unübersichtlichem Gelände autonom zu lokalisieren und Vitalparameter zu erfassen.
Gleichzeitig bestehen erhebliche methodische und praktische Herausforderungen. Die meisten verfügbaren KI-Systeme wurden bislang nur retrospektiv oder anhand klinischer Vignetten getestet. Unter realen Bedingungen – geprägt durch Stress, Lärm und wechselnde Umgebungen – ist die Leistungsfähigkeit bisher kaum belegt. Auch rechtlich ergeben sich durch den seit August 2025 geltenden EU-AI-Act neue Anforderungen an Transparenz, Risikomanagement und menschliche Aufsicht. Für den militärischen Bereich gelten zwar Ausnahmen, doch Dual-Use-Systeme, wie sie im Sanitätsdienst der Bundeswehr häufig entwickelt werden, unterliegen denselben strengen Regularien wie zivile Anwendungen.
Für die Bundeswehr ergibt sich daraus ein erhebliches Innovationspotenzial: Durch gezielte Pilotierung, realitätsnahe Erprobung und die Integration in telemedizinische und robotikgestützte Strukturen kann KI zur Effizienzsteigerung, besseren Ressourcenverteilung und Verbesserung der Patientensicherheit beitragen. Der Artikel untersucht aktuelle Anwendungsfelder, laufende Forschungsprojekte und rechtliche Rahmenbedingungen, diskutiert deren Belastbarkeit und zeigt Perspektiven auf, wie der Sanitätsdienst der Bundeswehr von dieser technologischen Entwicklung profitieren kann – vorausgesetzt, sie wird verantwortungsvoll, evidenzbasiert und interoperabel in bestehende Versorgungssysteme integriert.
Schlüsselwörter: Künstliche Intelligenz, KI, Notfallmedizin, Triage, Herausforderungen, militärischer Gebrauch
Summary
The application of artificial intelligence (AI) in prehospital emergency medicine is undergoing a phase of rapid development. Its scope ranges from automated triage systems and speech recognition – based documentation tools to robotic rescue units. The aim is to support emergency personnel in time-critical decision-making, prevent information loss, and improve the overall quality of care. Several systems have already shown promising results: for instance, the KATE triage model significantly improved the accuracy of urgency classification compared to nursing staff, while projects such as ARTEMIS open up the perspective of autonomously locating casualties in complex terrain and recording vital parameters on site.
At the same time, there are considerable methodological and practical challenges. Most available AI systems have so far only been evaluated retrospectively or using clinical vignettes. Their performance under real-world conditions – characterized by stress, noise, and dynamically changing environments – remains largely unproven. In addition, the EU Artificial Intelligence Act, which entered into force in August 2025, introduces new requirements for transparency, risk management, and human oversight. While purely military systems are exempt from its scope, dual-use technologies, which are common in the Bundeswehr Medical Service, are subject to the same stringent regulations as civilian applications.
For the Bundeswehr Medical Service, this technological evolution presents significant opportunities. Through targeted pilot projects, realistic field testing, and integration into telemedical and robotic structures, AI has the potential to enhance efficiency, optimize resource allocation, and increase patient safety in operational settings. This article outlines current applications, ongoing research projects, and regulatory frameworks, evaluates the robustness of existing systems, and highlights perspectives on how the Bundeswehr Medical Service can leverage AI responsibly, evidence-based, and in full interoperability with existing medical support structures to improve outcomes in both peacetime and operational missions.
Keywords: artificial intelligence; AI; emergency medicine; triage; challenges; military use
Einleitung
Die präklinische Notfallmedizin gilt als eine der dynamischsten und anspruchsvollsten Disziplinen der Akutversorgung. Innerhalb weniger Minuten müssen lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden – häufig unter erheblichem Zeitdruck, mit unvollständigen Informationen und in hochdynamischen, oft widrigen Einsatzumgebungen. Gerade in solchen Situationen hängt das Behandlungsergebnis maßgeblich von der Erfahrung und Reaktionsfähigkeit des medizinischen Personals ab. Zugleich wächst der Bedarf an strukturierten, evidenzbasierten Entscheidungshilfen, um Fehler zu vermeiden, Ressourcen optimal einzusetzen und die Versorgung auch unter Belastung auf konstant hohem Niveau sicherzustellen. Künstliche Intelligenz (KI) bietet hierfür vielversprechende neue Ansätze.
Durch die automatisierte Analyse großer, komplexer Datenmengen – von Vitalparametern über Spracherkennung bis hin zu Umgebungsdaten – kann KI Entscheidungsprozesse unterstützen, Diagnosen beschleunigen und die Kommunikation im Einsatzteam verbessern. Erste Systeme kommen bereits in der zivilen Notfallmedizin zum Einsatz, etwa bei der Triage, der Dokumentation oder der prähospitalen Vorhersage von Krankheitsverläufen. Ihre Leistungsfähigkeit wird derzeit in zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten untersucht. Auch für den Sanitätsdienst der Bundeswehr ergeben sich daraus neue Perspektiven: Im militärischen Einsatzumfeld mit seinen besonderen Herausforderungen – eingeschränkte Infrastruktur, Gefahrenlagen, Massenanfälle von Verwundeten – könnte der gezielte Einsatz von KI entscheidend dazu beitragen, Ressourcen besser zu koordinieren, Lagebilder in Echtzeit zu verbessern und die medizinische Versorgung robuster zu gestalten.
Dieser Beitrag gibt einen Überblick über aktuelle Entwicklungen und Anwendungsfelder der künstlichen Intelligenz in der präklinischen Notfallmedizin. Neben Beispielen aus der zivilen Forschung werden insbesondere Projekte mit potenzieller militärischer Relevanz vorgestellt. Darüber hinaus werden Chancen und Risiken dieser Technologie diskutiert, die rechtlichen Rahmenbedingungen skizziert und der mögliche Nutzen für den Sanitätsdienst der Bundeswehr eingeordnet.
Anwendung von KI bei der Triage
Babylon Triage and Diagnostic Systems
Das Babylon-System wurde 2016 in Großbritannien eingeführt. Es handelt sich um ein App-basiertes Triage- und Diagnosesystem [1][10]. Anhand von Symptomangaben, demografischen Daten und individuellen Risikofaktoren schlägt es eine wahrscheinliche Diagnose vor und ordnet den Patienten einer von sechs Dringlichkeitsstufen zu – von „Notruf erforderlich“ bis „Selbstversorgung ausreichend“. Die Anwendung ist bislang ausschließlich in Großbritannien und Irland verfügbar.
In einer Studie auf Basis klinischer Vignetten – textbasierter Beschreibungen hypothetischer Fallbeispiele – lieferte das System in 51,5 % der Fälle keinen Handlungsvorschlag. Wurde jedoch eine Dringlichkeitsstufe ausgegeben, erreichte das Sicherheitsniveau 95,1 % und lag damit nahezu auf dem Niveau ärztlicher Ersteinschätzungen (97 %) [6]. Diese Ergebnisse deuten auf ein grundsätzlich hohes Sicherheitsniveau hin, sofern das System eine Einstufung vornimmt.
Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass die Untersuchung ausschließlich vignettengestützt erfolgte und eine prospektive Validierung im realen Notfallbetrieb bislang fehlt. Zudem besteht weiterhin das Risiko einer Untertriage oder Fehldiagnose, insbesondere bei unvollständigen oder fehlerhaften Dateneingaben durch den Nutzer.
KATE-Triagemodell
Das System KATE wurde von Mednition, einem Softwareentwickler in Burlingame, Kalifornien, USA, entwickelt und ist derzeit vor allem in US-amerikanischen Notaufnahmen im Einsatz [14]. Es handelt sich hierbei um ein KI-basiertes Triagesystem, das strukturierte Daten wie Vitalparameter mit unstrukturierten Informationen, beispielsweise frei eingegebenen Symptombeschreibungen, kombiniert und diese automatisiert einer Kategorie des Emergency Severity Index (ESI, Stufen 1–5) zuordnet. Diese reichen von „sofort lebensrettende Maßnahme erforderlich“ bis „geringe Dringlichkeit, lediglich Beratung oder Untersuchung notwendig“.
In einer retrospektiven Vergleichsstudie erreichte KATE eine Gesamtgenauigkeit von 75,7 %, während Pflegekräfte in derselben Stichprobe auf 59,8 % kamen [9]. Besonders bedeutsam war die Verbesserung in der kritischen Differenzierung zwischen den Kategorien ESI-2 und ESI-3, also zwischen potenziell vital gefährdeten und nicht-kritischen Patienten (KATE: 80 %, Pflegekräfte: 41,4 %). Damit zeigte sich ein deutlich geringeres Risiko der Untertriage.
Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse fehlen bislang prospektive Studien, die den Einfluss von KATE auf Patientenergebnisse oder Prozesszeiten im Routinebetrieb untersuchen. Die bisherige Evidenz beruht überwiegend auf retrospektiven Analysen und simulierten Datensätzen [11]. Offen bleibt daher, wie zuverlässig das System in realen Einsatzbedingungen arbeitet und ob sich die beobachteten Vorteile im klinischen Alltag oder gar in präklinischen Szenarien reproduzieren lassen.
Anwendung von KI zur erleichterten
Dokumentation
Die präklinische Dokumentation ist ein zentraler Bestandteil der Patientenversorgung, steht jedoch regelmäßig im Spannungsfeld zwischen Zeitdruck und inhaltlicher Vollständigkeit. In vielen Einsätzen erfolgt die Dokumentation erst nachträglich, wodurch relevante Informationen verloren gehen oder nur unvollständig erfasst werden.
Ambient AI
Einen vielversprechenden Lösungsansatz bietet das Konzept der sogenannten Ambient AI. Dabei handelt es sich um Systeme, die Gespräche und Umgebungsgeräusche im Hintergrund aufzeichnen, diese automatisch analysieren und in Echtzeit in eine strukturierte Dokumentation überführen. Ziel ist es, die manuelle Nacharbeit zu reduzieren, Lücken zu vermeiden und das medizinische Personal im Einsatz zu entlasten.
Ein Beispiel hierfür ist das „Dragon Ambient eXperience“ (DAX) des Unternehmens Nuance (Microsoft). Das System soll Arzt-Patienten- oder Arzt-Rettungsdienst-Gespräche automatisch transkribieren und daraus einen vollständigen Behandlungsbericht generieren. Eine erste Kohortenstudie konnte jedoch keine signifikante Verbesserung der Effizienz oder Dokumentationsqualität nachweisen. Im Gegenteil: Die erwartete Zeitersparnis pro Patienten blieb gering, während der Anteil an zusätzlicher Nachbearbeitungszeit („after hours work“) sogar zunahm [8].
Unter realen Einsatzbedingungen – geprägt durch Lärm, wechselnde Lichtverhältnisse und hohe Stressbelastung – dürfte die Herausforderung noch deutlich größer sein. Untersuchungen zur Spracherkennung im klinischen Alltag zeigen, dass Fehlerraten in lauten Umgebungen erheblich ansteigen können [7]. Für den präklinischen Bereich liegen bislang keine belastbaren Daten zur Leistungsfähigkeit solcher Systeme vor. Entsprechend ist offen, ob sich Ambient-AI-Technologien unter den Bedingungen des Rettungsdienstes oder militärischer Einsätze tatsächlich bewähren können.
Anwendung von KI in Kombination mit Robotik
Bei einem Massenanfall von Verwundeten (MANV) stehen Einsatzkräfte vor enormen Herausforderungen: unübersichtliche Lagen, unwegsames Gelände und eine hohe Zahl gleichzeitig zu versorgender Patienten erschweren eine strukturierte Priorisierung. In solchen Szenarien kann der Einsatz von Robotik in Kombination mit künstlicher Intelligenz entscheidende Vorteile bieten – insbesondere, wenn das Gelände gefährlich oder für Menschen schwer zugänglich ist.
Ein innovativer Ansatz findet sich im Forschungsprojekt ARTEMIS (AI-driven Robotic Triage Labeling and Emergency Medical Information System). Das System basiert auf einem autonom agierenden, vierbeinigen Roboter, der in der Lage ist, sich eigenständig im Gelände zu bewegen, verletzte Personen zu lokalisieren und erste Vitalparameter – wie Puls, Temperatur, Sauerstoffsättigung und Bewusstseinszustand – zu erfassen. Die erhobenen Daten werden in Echtzeit an eine Leitstelle oder Einsatzführung übertragen, wo sie unmittelbar für die Triage und Ressourcensteuerung genutzt werden können [12].
Das Konzept verspricht insbesondere für militärische Lagen mit hohem Gefährdungspotenzial oder eingeschränktem Zugang zu Verwundeten erhebliche Vorteile. Der Roboter kann dabei helfen, Lagebilder frühzeitig zu erstellen, Prioritäten zu setzen und menschliches Personal zu entlasten.
Gleichwohl befindet sich ARTEMIS noch in einer frühen Forschungsphase. Ein Wirksamkeitsnachweis unter realen Einsatzbedingungen steht bislang aus, und Fragen zur Robustheit, Energieversorgung, Kommunikation unter widrigen Bedingungen sowie zur Integration in bestehende Rettungsketten sind offen. Dennoch unterstreicht das Projekt exemplarisch das Potenzial von KI-gestützter Robotik, die präklinische Versorgung in Extremszenarien grundlegend zu verändern.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das durch die EU geförderte Projekt iMEDCAP (intelligent Medical Capabilities), bei welchem die Bundeswehr maßgeblich beteiligt ist. Es erfolgt zunächst mittels Distanzsensorik (Wärmebild, Video, Mikrowellentechnik, etc.) die Detektion von Verwundeten aus der Luft, sowie eine erste Triage. Während des autonomen Patiententransports in einer speziellen Patiententransporteinheit werden Vitalparameter aufgezeichnet und durch eine KI fortlaufend bewertet, um Zustandsänderungen frühzeitig zu erkennen und ggf. operative Entscheidungen (z. B. Transportzieländerung) zu treffen. Mittels eines Robotersystems mit verschiedenen Effektoren können zudem lebensrettende Sofortmaßnahmen (z. B. Aktivierung eines Tourniquets, Nutzung von Autoinjektoren oder Durchführen einer Nadeldekompression) ergriffen werden [13].
Deutsche Projekte aus dem Gebiet der KI
Auch in Deutschland laufen derzeit mehrere staatlich geförderte Projekte, die sich mit der Integration künstlicher Intelligenz in die präklinische Notfallmedizin befassen. Sie zielen darauf ab, Entscheidungsprozesse zu unterstützen, Schnittstellen zwischen Präklinik und Klinik zu optimieren und telemedizinische Versorgungskonzepte weiterzuentwickeln.
KIT² – KI-unterstützter Telenotarzt
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt KIT² („KI-unterstützter Telenotarzt“, Laufzeit 09/2022–08/2025) wird vom Universitätsklinikum Aachen in Zusammenarbeit mit dem Aachener Institut für Rettungsmedizin und zivile Sicherheit koordiniert. Ziel ist die Entwicklung eines intelligenten Assistenzsystems, das Telenotärzte in drei Ebenen unterstützt:
- medizinisch – z. B. bei Diagnosestellung und Therapiewahl,
- taktisch – bei der Auswahl geeigneter Maßnahmen sowie
- strategisch – bei der Ressourcenverteilung und Priorisierung.
Besonders relevant ist die Möglichkeit, diese Entscheidungsunterstützung in Echtzeit bereitzustellen – auch unter Einsatzbedingungen, etwa bei Großschadenslagen oder im militärischen Umfeld [3].
Connect-ED
Ebenfalls durch das BMBF gefördert (Laufzeit 09/2022–07/2025) wird das Projekt Connect-ED, koordiniert durch die Universitätsmedizin Göttingen in Kooperation mit Partnern wie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Ziel ist die Verbesserung der Datenschnittstelle zwischen präklinischer und klinischer Versorgung. Durch die Echtzeitübertragung relevanter Parameter aus dem Rettungsdienst an die Zielklinik sollen Wartezeiten reduziert, Ressourcen besser geplant und innerklinische Abläufe beschleunigt werden [2].
KI-Belastung-Verwundung
Das Planungsamt der Bundeswehr fördert aktuell ein KI-basiertes Softwareprojekt (UM 50U P 015) zur Überwachung der körperlichen Belastung von Soldaten und zur Unterstützung bei der Ersteinschätzung und Betreuung verwundeter Patienten (siehe Abbildung 1). Zum Training der KI für die Triage von Verwundeten werden Vitalparameter aus der Präklinik und von Schockraumpatienten herangezogen. Die Akquise der dafür benötigten großen Datenmengen ist die größte Herausforderung in diesem Projekt.
Abb. 1: Darstellung der Patientenechtzeitdaten inklusive Videofeed aus der Drohne auf dem Telemedizinarbeitsplatz: Die KI unterstützt bei der Ersteinschätzung (Triage) und ist in der Lage durch die kontinuierliche Erfassung und Bewertung multipler Sensordaten eine Zustandsänderung frühzeitig zu detektieren, was speziell bei der Überwachung mehrerer Patienten hilfreich ist. (Screenshot aus dem Projekt „KI-Belastung-Verwundung“)
Die genannten Projekte besitzen erhebliches Potenzial für den Sanitätsdienst der Bundeswehr. Sie könnten dazu beitragen, die Kommunikation und Datentransparenz entlang militärischer Rettungsketten zu verbessern (siehe Abbildung 2), insbesondere in Kombination mit telenotärztlichen Konzepten und der Nutzung geschützter Kommunikationsnetzwerke. Damit wird ein wichtiger Schritt in Richtung digital vernetzter und KI-gestützter Einsatzmedizin gemacht.
Abb. 2: Lagedarstellung der operativ-taktischen Lage: Die KI kann anhand der medizinischen Dringlichkeit, den Geo-Daten der Transportmittel und der Kapazitäten der beteiligten Versorgungseinrichtungen aktiv Einfluss auf den Patientenfluss entlang der Rettungskette nehmen. (Screenshot aus dem Projekt „KI-Belastung-Verwundung“)
Weitere Anwendungen
Ein zentraler Teilbereich der künstlichen Intelligenz ist das Machine Learning (ML). Dabei handelt es sich um Verfahren, bei denen Computersysteme anhand großer Datenmengen – etwa Vitalparameter, Laborwerte oder klinische Befunde – selbstständig Muster und Zusammenhänge erkennen. Auf dieser Basis können sie anschließend auf bislang unbekannte Datensätze reagieren, Wahrscheinlichkeiten berechnen und Prognosen ableiten.
In der medizinischen Forschung wird ML bereits erfolgreich eingesetzt, um komplexe Krankheitsverläufe vorherzusagen und kritische Zustände frühzeitig zu erkennen. Beispiele hierfür sind die KI-gestützte Schlaganfall-Erkennung im präklinischen Umfeld [16], die prähospitale Vorhersage von Überlebenswahrscheinlichkeiten nach Herz-Kreislauf-Stillstand [4] sowie Systeme zur Früherkennung von Sepsis [15].
Diese Anwendungen verdeutlichen das Potenzial von Machine-Learning-Algorithmen, dynamische klinische Daten in Echtzeit zu analysieren und medizinische Entscheidungen zu unterstützen. Für die präklinische Notfallmedizin – und insbesondere für militärische Einsatzszenarien – könnten solche Systeme künftig eine wertvolle Ergänzung darstellen, um Risikopatienten frühzeitig zu identifizieren, Ressourcen gezielter einzusetzen und die Versorgungsqualität unter Einsatzbedingungen weiter zu verbessern.
Tab. 1: Übersicht ausgewählter Projekte
Rechtliche Rahmenbedingungen
Mit dem Inkrafttreten des EU Artificial Intelligence Act (EU-AI-Act) am 1. August 2025 wurde erstmals ein umfassender Rechtsrahmen für den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Europäischen Union geschaffen [5]. Ziel dieser Verordnung ist es, die Sicherheit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit von KI-Systemen zu gewährleisten und gleichzeitig Innovation zu fördern. Der EU-AI-Act sieht eine risikobasierte Klassifizierung von KI-Systemen vor. Medizinische Anwendungen gelten in der Regel als Hochrisiko-Systeme, da Fehlentscheidungen unmittelbare Auswirkungen auf die Patientensicherheit haben können. Für Entwickler und Betreiber solcher Systeme ergeben sich daraus strenge Anforderungen an Risikomanagement, Datenqualität, technische Dokumentation, Transparenz sowie an die Einbindung menschlicher Aufsicht.
Für den militärischen Bereich gilt grundsätzlich eine Ausnahme: KI-Systeme, die ausschließlich für Verteidigungszwecke entwickelt und eingesetzt werden, fallen nicht unter die zivilen Bestimmungen des EU-AI-Acts. Sobald jedoch ein sogenannter Dual-Use-Charakter – also eine parallele Nutzung in zivilen und militärischen Bereichen – vorliegt, greifen die Regularien vollständig. Dies betrifft insbesondere den Sanitätsdienst der Bundeswehr, da viele Entwicklungen in Kooperation mit zivilen Forschungseinrichtungen oder Kliniken erfolgen.
Die neue Gesetzgebung schafft damit einerseits mehr Rechtssicherheit, stellt andererseits aber auch hohe Anforderungen an Zulassung, Testung und Nachweis der klinischen Sicherheit von KI-Systemen. Für militärische Forschungs- und Entwicklungsvorhaben bedeutet dies, dass Aspekte wie Datenschutz, Datenherkunft, Bias-Kontrolle und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungslogik künftig noch stärker in den Fokus rücken werden. Der EU-AI-Act ist somit nicht nur regulatorische Hürde, sondern auch Chance: Er fördert die Entwicklung vertrauenswürdiger, sicherer und verantwortungsvoll eingesetzter KI-Systeme – auch im Rahmen militärischer Medizin.
Fazit und Ausblick
Künstliche Intelligenz steht kurz davor, die präklinische Notfallversorgung grundlegend zu verändern. Bereits heute existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme – von der digitalen Triage über automatisierte Dokumentation bis hin zu robotikgestützten Assistenzlösungen. Sie alle verfolgen das Ziel, Entscheidungen zu beschleunigen, Ressourcen effizienter einzusetzen und die Patientensicherheit zu erhöhen. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Großteil der derzeit verfügbaren Anwendungen noch nicht ausreichend unter realen Einsatzbedingungen validiert ist. Viele Studien beruhen auf retrospektiven Analysen oder simulationsbasierten Szenarien, während belastbare prospektive Daten fehlen. Sprachassistenzsysteme weisen bislang eine zu geringe Robustheit in lärmintensiven Umgebungen auf, und robotikbasierte Konzepte wie ARTEMIS befinden sich noch in der experimentellen Phase. Mit dem EU-AI-Act wurden zudem neue regulatorische Maßstäbe geschaffen, die sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringen. Gerade für militärische Dual-Use-Systeme ist eine sorgfältige Balance zwischen technologischer Innovationsfreude und rechtlicher Verantwortung erforderlich.
Für den Sanitätsdienst der Bundeswehr eröffnet sich dadurch ein erhebliches Entwicklungspotenzial. Durch gezielte Pilotprojekte, realitätsnahe Erprobungen und die Einbindung in telemedizinische Netzwerke kann KI helfen, Lagebilder zu verbessern, Entscheidungsprozesse zu standardisieren und die Einsatzfähigkeit medizinischer Teams zu stärken. Besonders in Szenarien mit hohem Zeitdruck, unübersichtlicher Lage oder eingeschränkter personeller Verfügbarkeit könnte der verantwortungsvolle Einsatz von KI einen entscheidenden Unterschied machen – hin zu einer schnelleren, präziseren und resilienteren präklinischen Versorgung im militärischen Umfeld.
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WMM 2025–69(12)544A
Manuskriptdaten
Zitierweise
Künstliche Intelligenz in der präklinischen Notfallmedizin – Chancen, Grenzen und militärische Relevanz
Käther D, Jänig C, Schmidbauer W, García Bardon A. Künstliche Intelligenz in der präklinischen Notfallmedizin – Chancen, Grenzen und militärische Relevanz. WMM 2025;69(12):539-544.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-782
Für die Verfasser
Flottillenarzt Dr. Andreas Garcia Bardon
Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und
Schmerztherapie
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz
E-Mail: andreasgarciabardon@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Käther D, Jänig C, Schmidbauer W, Garcia Bardon A. [Artificial Intelligence in Preclinical Emergency Medicine – Opportunities, Limitations, and Military Relevance]. WMM 2025;69(12):539-544.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-782
For the Authors
Commander (Navy MC) Dr. Andreas García Bardon
Department for Anaesthesiology, Intensive Care, Emergency Medicine, and Pain Therapy
Bundeswehr Central Hospital Koblenz
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